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07. September — 27. October 2019

Leon Eixenberger & Nina Schuiki
Ich Liebe Dich

Leon Eixenberger

Nina Schuiki

“Der Titelwahl liegt eine zufällige Begebenheit zugrunde: Es sind die gleichen drei Worte, die die Frau Müllers ihrem Mann beim Abschied, zusammen mit einem »Schreib’ bald!« zuruft, was der Erzähler als Aufforderung nimmt, den Roman bald zu schreiben. Dem Leser wird regelrecht ein work-in-progress vorgeführt, bei dem während der Fahrt das Werk entsteht und die 66 Intermezzos im Roman 66 Eisenbahnstationen gleichkommen.“

Paul Scheerbart, Ich liebe Dich!, Ein Eisenbahnroman, Berlin 1897

Für die Ausstellung interpretieren Eixenberger & Schuiki die Blickachse zwischen stillgelegter Siemensbahn und der Siedlungsarchitektur Hans Scharouns und lesen diese als Vergänglichkeitsmetapher gegen Paul Scheerbarts epochalem Eisenbahnroman gleichen Titels.

Eröffnung,
27. Oktober 2019

Von Lichtsprossen und Eisengerippen
Über Leon Eixenbergers & Nina Schuikis Ausstellung Ich liebe Dich!

Dass Paul Scheerbart und Bruno Taut 1914 mit ihrem (mehr oder weniger) gemein- samen Glaspavillon für die Deutsche Werkbund-Ausstellung in Köln die Architektur- moderne und die Zukunft des Bauens einleiteten, ist mittlerweile kultureller Kanon. Begleitend zur Ausstellung veröffentlicht Paul Scheerbart die Bruno Taut gewidmete Programmschrift Glasarchitektur und beschreibt die Notwendigkeit und Vorzüge der gläsernen Architektur in 111 Kapiteln. Doch es ist die Beschreibung eines wohl eher nebensächlichen Konstruktionsdetails, welches einer genaueren Betrachtung bedarf:

Während Scheerbart vom Palmenhaus der Botanischen Gärten zu Dahlem als Beispiel für „ganz imposante Glaspaläste“ schwärmt, scheint es ihm insbesondere die freitra- gende Eisenkonstruktion und dessen Verbindung zum Glas haltenden Sprossenwerk angetan zu haben. Das Eisengerippe benennt Scheerbart als „unentbehrlich für die Glasarchitektur“ und läßt sich im weiteren Verlauf des Essays gar dazu hinreißen „die Glasarchitektur als zur Hälfte ebenfalls als Eisenarchitektur” zu erklären.

Doch Moment! Ist das nicht der gleiche Scheerbart, der knappe 20 Jahre zuvor – nämlich 1897 – schon mal einen Eisenbahnroman in 66 Kapiteln veröffentlichte? Und begann nicht dessen Auftaktsequenz am Bahnhof Friedrichstraße mit den Worten Ich liebe Dich!, jenen Worten, denen damals wie heute das Stigma des Unberechenbaren anhaftete, und die dann auch gleich von Scheerbart zum Titel des Romans erkoren wurden? Und eskalierte dieser Roman – den man aufgrund seines Titels eigentlich für etwas ganz anderes hielt – dann nicht plötzlich unter dem monotonen Rattern einer endlosen Schienenarchitektur zu einer absurdistischen Theorie des Zukunftsmenschen samt der “radikalen Decentralisaton der Menschen und ihrer Wohnstätten”?

Dass Scheerbarts Eisenbahnroman hier also titelgebend für Leon Eixenbergers & Nina Schuikis Ausstellung ist, dürfte dem geneigten Leser nun aufgefallen sein. Wie sich jedoch Scheerbarts Multispektralpoesie jenseits von Raum, Zeit und thematischer Setzung als Inspirationsmoment für eine Ausstellung anwenden lässt, erschließt sich eventuell erst, wenn man Scheerbarts Romane einmal radikal gegeneinander liest:
Am Besten sollte man diese sogar Seite für Seite zerschneiden und nach einem Zufallsprinzip neu montieren, so dass die noch verbliebene Restlinearität der Roman- struktur entweichen, und sich der wahre Scheerbart entfalten kann. Denn stößt man im Eisenbahnroman plötzlich darauf, dass Scheerbart auch schon dort von Glaspalästen schwärmte, in denen “der Zukunftsmensch mitten im freien Lande, ungestört von Nachbarn und Straßenlärm, auf den Glanz der üppigsten Kultur und Kunst nicht verzichten sollte”, dann mag dämmern, dass Scheerbarts traumartigen Textkonstruk- tionen nicht bloß von einem instabilen Zeitverständnis getragen wurden, sondern dass dieser tatsächlich schon früh im Reisen ein transzendentes Potenzial erkannte.

Dass auch Brion Gysin 1958 auf dem Weg nach Marseille von flüchtigen Reisehallu- zinationen aufgesucht wurde, mag an dieser Stelle erst mal wie eine lose Assoziation erscheinen. Dass Gysin jedoch – inspiriert vom Licht- und Reflektionsspiel der vorbei- flackernden Landschaften - die Idee zur Dream Machine bekam – jenem perforierten Plattenspieleraufbau, welcher das psychedelische Momentum des Reisens als Selbsterfahrungstool verfügbar machte – und somit die psychedelische Revolution der Sechziger Jahre in einem Gadget kulminieren ließ, dass seinen Ursprung einem Zufall bzw. Gysins Reiseleidenschaft verdankt, ist tatsächlich eine andere Geschichte.

Aber betrachtet man einmal Gysins Dream Machine unmittelbar neben Bruno Tauts Glaspavillon, so wird eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit überraschen: Denn beide Konstrukte sind Lichtarchitekturen, die einer ganz ähnlichen Funktionsweise folgen. Doch während der tautsche Pavillon vom Verlauf der Sonne zyklisch illuminiert wird, invertiert Gysin diesen Effekt, und lässt seine Konstruktion direkt um eine Licht- quelle herum zirkulieren. Die rhythmische Strukturierung des Lichts illuminiert also Architektur wie Betrachter gleichermaßen, und wird somit zum Erwecker des Immobilen und des Inaktiven. Neurologisch ist dieser Umstand als Alpha-Zustand definiert, jenem Hirnwellenfrequenzbereich welcher vom EEG zwischen 8 und 14 Hz gemessen wird und bei dem das Gehirn – bei vollem Bewusstsein – zu tagträumen beginnt.
Langsam mag man also verstehen, wieso Scheerbart dem Sprossenwerk solch eine Wichtigkeit zugesprochen hat. Ob in Form der Eisenbahnschiene oder der eisernen Trägerkonstruktion, Scheerbarts Formel Eisenarchitektur = Eisenbahnarchitektur entfaltet sich bei genauerer Betrachtung als Universaltheorie in der Subjekt, Architektur und die Tätigkeit des Reisens zu einem fluiden Tagtraum der Moderne verschmilzen.

Ob die Arbeiter, die Tag für Tag zwischen 1929 und bis zur Stilllegung der Siemens- bahn 1980, mit dieser zur Arbeit in die Siemens-Werke fuhren, von der Bahn in einen ähnlichen Alpha-Zustand entrückt wurden, sei einmal dahin gestellt. Dass diese Arbeiter jedoch in einem unbewussten Affekt zum großen Traum der Moderne beitrugen und ihre Produktivkraft in einer fordistisch, durchrationalisierten Arbeitsallmacht aufgehen ließen, die Arbeitsabläufe fragmentierte wie das Sprossenwerk den Lichteinfall, ist wohldokumentiert. Weniger dokumentiert hingegen sind die Wege welche die Arbeit überhaupt erst möglich machten – und welche die Umgebung von Siemensstadt auch gegenwärtig noch maßgeblich prägen. Die Wege zwischen dem stillgelegten Bahnhof Siemensstadt, welcher nur aus seinem Dornröschenschlaf zu erwachen scheint, wenn ihm die Graffitientfernung zu leibe rückt, und jenem Siemens-Werk, welches seit jeher in seiner monolithischen Rotsteinbackigkeit müde in der Landschaft liegt, um vergangene Autorität zu demonstrieren.

Dem Nachspüren dieser historischen Einschreibungen haben sich Leon Eixenberger & Nina Schuiki hier zur Aufgabe gemacht. Dass sie mit ihrer Arbeit – trotz aller hier beschriebenen Zeitverästelungen – spot on time sind, belegen die aktuellen Bestrebungen, die Siemensbahn wieder zu reaktivieren und die siemenssche Werkstruktur als Zukunftscampus zu revitalisieren. Dass Eixenberger & Schuiki es jedoch geschafft haben, Paul Scheerbart in diesen Prozess mit einzudenken, ist sicherlich eine der Primärleistungen dieser Ausstellung.

Nicht überliefert ist jedoch, ob Scheerbart es jemals in seinem Leben überhaupt bis nach Siemensstadt geschafft hat. Das Einzige, was man weiß, ist dass immer wenn Paul Scheerbart träumt, seit je her ein Lichtstrahl durch das von der Großindustrie vernebelte Siemensstadt fällt und es für einen kurzen Moment so scheint, als hätte sich das große Versprechen der Moderne eingelöst.

Tim Tetzner, September 2019

Walk auf der Siemensbahn,
27. Oktober 2019
Einladungskarte