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03. Oktober — 14. November 2020

Ahu Dural neues bauen 13629

Ahu Dural

Als älteste Tochter türkischer Einwanderer ist Ahu Dural in Siemensstadt, einer Werksiedlung der Berliner Moderne, aufgewachsen. Durch die Arbeit im Gruppen- und Einzelakkord (Durals Mutter montierte Microchips für Siemens-Geräte im Wernerwerk XV) ermöglichten die Eltern ihr und ihren beiden Schwestern Ausbildung und Studium – und somit die Option auf ein Leben jenseits der Siemens-Produktionsstätten.

Die Ausstellung “neues bauen 13629” verbindet Durals familiäre Geschichte mit ihrer eigenen künstlerischen Reflektion zu einem narrativen Strang. Von den Orten ihrer Sozialisation ausgehend (Wohnung, Schule, Kita, Hort), nimmt Ahu Dural das damalige Konzept der Großsiedlung “Arbeiten, Wohnen, Erziehen und Erholen” als Ausgangspunkt künstlerischer Neuinterpretation. Welche Relevanz hat der ursprüngliche Gedanke des “neuen bauens” in einem städtischen Raum wie Siemensstadt für damals und heute? Was ist und war für die Künstlerin das Prägende an Siemensstadt?


Ausstellung : 03. Oktober - 14. November 2020

Öffnungszeiten: Samstags 12h - 18h nur nach Vereinbarung unter info@scharaun.de


Scharaun
Jungfernheideweg 4
13629 Berlin-Siemensstadt
U-Bhf Siemensdamm
info@scharaun.de

Spielplatz 129 (Regal, Hocker), Kırmızı* Johanna (*rot auf türkisch) & Vage Räume (Var. 18) Collage

In ihrer Einzelausstellung "neues bauen 13269" im Projektraum Scharaun unternimmt Ahu Dural (Berlin * 1984) eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Umfeld ihrer Kindheit. Der Projektraum Scharaun befindet sich im 3. Stock eines von Hans Scharoun für Siemensstadt entworfenen und 1930 fertiggestellten Wohnblocks. Als älteste Tochter türkischer Einwanderer wuchs Dural in der Siemensstadt auf, mit ihren renommierten Berliner Siedlungen der Moderne, die etwa ab den 1910er Jahren für die Arbeitnehmer der Siemens-Werke gebaut wurden.
Die Künstlerin verbindet ihre Biografie mit den architektonisch-funktionalen Elementen des Stadtteils. Sie untersucht das modernistische „All in one place“ Konzept („Arbeit, Wohnraum, Bildung und Erholung“) eingebettet in die Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, und nimmt es als Ausgangspunkt für persönliche Reflexionen.

Ohne Titel & Spielplatz 129 (Regal, Hocker, Beistelltischlein, weisser Schreibtisch)

Sie bedient sich der Linien, Formen, Farben und Symbole der Siemensstadt für die Raumkunst in der Ausstellung. Details und Fragmente aus Fotos und Zeichnungen (beispielsweise ihres Kindergartens oder des Plattenbaus, in dem die Künstlerin mit ihrer Familie lebte) tauchen ein in ihre Skulpturen und großformatige Collagen. Weitere Elemente, wie die frühen Siemens-Firmenlogos oder der pferdeförmige Sitz vom Spielplatz der Siedlung am Saatwinkler Damm, werden in einer abstrakten und grafischen Sprache in Bildfläche und Möbelobjekt eingearbeitet.

15 years (Wernerwerk XV - Siemens) & 20 years (Moabit & Siemensstadt)

Bezüge zu den Siemens-Werken der 1980er Jahre dominieren die Kunstwerke, ebenso wie die Erinnerungen an Durals Kindheit und die architektonische und soziale Entwicklung des Stadtteils. Ihre Mutter, Özler Dural, arbeitete von 1980 bis 1995 bei Siemens als Bestückerin für Leiterplatten im Akkord. Der Ertrag dieser repetitiven Handarbeit ermöglichte Dural und ihren Schwestern Bildung, Ausbildung und sozialen Aufstieg. Die repetitiven Aspekte der mütterlichen Lohnarbeit klingen in den Collagen und Skulpturen der Künstlerin nach: Sie setzt sich quasi körperlich in unterschiedlichen Materialien und Dimensionen mit der Fabrikarbeit auseinander, mit ihren sich wiederholenden Gesten, Bewegungen und Mustern.

Aber es ist vor allem eine weibliche Perspektive, die auch in "neues bauen 13629" Durals bisher persönlichster Ausstellung, zum Vorschein kommt. Viele Werke spielen an auf die weiblichen Einflüsse in ihrem Leben - angefangen bei ihrer Mutter. 15 Years eine Auswahl von Fotos aus dem Duralschen Familienalbum, zeigt die Mutter bei der Arbeit im Wernerwerk XV, Geburtstagen, Jubiläen, Abschiedsfeiern. Jene Anlässe, die damals wichtig genug erschienen, um auf Zelluloid festgehalten zu werden.

Bestückerin, Objet d‘Eileen (Bestückerinnen) & Wandtapete Siemens-Halske-Schuckert

Die Mutter ist meist von Kolleginnen umgeben, da die präzisen feinmotorischen Aufgaben (wie beispielsweise der Zusammenbau von Mikrochips) fast ausschließlich von Frauen erledigt wurden. Während ihre Mutter ihr Geschichten aus 15 Years erzählte, „kleidete“ Dural die Erzählerin performativ in einen neuen Siemens-Arbeitskittel: Eine bestickte Neuinterpretation. Als Kind wurde Ahu Dural stark geprägt durch die produktive Energie Ihrer Mutter. Weibliche Vorbildfiguren stehen auch im Zentrum ihrer Interessen: Feministische kritische Theorie, Architektinnen und Designerinnen der Moderne und Postmoderne. Mehrere Skulpturen in der Ausstellung sind inspiriert von bzw. Hommagen an weibliche Kreative wie Eileen Grey, Charlotte Perriand oder Louise Bourgeois. Ein Objekt, das einer Grey‘schen Innenleuchte ähnelt, wird durch Durals abstrakte Neuinterpretation beinahe in ein zweidimensionales Objekt verwandelt und erinnert an die Fähigkeit von Grey, ihren funktionalen Industriedesigns eine grafische Dimension zu verleihen.

Vage Räume (Var. 18) Collage & Kırmızı* Johanna (*rot auf türkisch)

Eine weitere Arbeit in Form einer Bank aus langen Holzstücken erinnert an Perriands japanischen Stil. Zugleich nimmt das Werk biografische Elemente auf, wie die kräftige orange- rötliche Farbe der Bänke des Kindergartens oder des U-Bahnhofs Siemensdamm. Lose platzierte Eicheln aus der Parkanlage in Siemensstadt liegen auf der Oberseite eines funktionalen weißen Schreibtisches.
Dieselbe geometrische Form, die Dural als „die Form meines Unterbewusstseins“ definiert, taucht in einem weiteren skulpturalen Werke auf: einem großformatigen tresenartigen Raumteiler, der in einer fröhlichen Version auf Bourgeois‘ Skulptur ‚The Blind Leading the Blind‘ verweist. Die geometrische Form folgt den Winkeln der Luftperspektive des Plattenbaus, in dem die Künstlerin und ihre Familie rund 20 Jahre lang lebten.

Anatolian Borders (Animationsfilm, Stopmotion, 7min., 2014) & Serie Vage Räume (Var. 11-29) Collagen

Im Nachdenken über das Gebäude, in dem sie ihre prägenden Jahre verbrachte – hauptsächlich bewohnt von Familien mit Migrationshintergrund wie ihrer - hat die Künstlerin beschlossen, der Ausstellung ihr Animationsvideo Anatolian Borders hinzuzufügen, das sich auf den Herkunftsort ihrer Eltern konzentriert.

In "neues bauen 13629" kuratiert von Jaro Straub, lädt Ahu Dural die Besucher*innen ein, die Stadtlandschaft Siemensstadt zu erkunden, ausgehend oder beeinflusst von den Kunstwerken ihrer Ausstellung. Die Exponate sollen wie Erinnerungen oder Träume die Grenzen zwischen funktionalen Objekten und gestisch-abstrakten Bildern verwischen.

englischer Originaltext: Anna Garbus
deutsche Übersetzung + Lektorat: Andrea Voigt

Fotos: Marlene Zoe Burz

Saatwinkler 129 (Tresen/Raumteiler)